Der Fluch des Trash-Jahrzehnts
Die Blütezeit der Interactive-Movies oder Full-Motion-Video-Games (FMV) liegt mit der Mitte der Neunziger schon ein bisschen zurück. Und war auch schnell wieder vorbei. Kein Wunder: Miese Darsteller und dilettantische Produktionen verdarben oft den cineastischen Genuss. Und simple A-B-Entscheidungsfragen, die zu entsprechenden Videoschnipseln führten, sind spielmechanisch – wie Ihr eingangs selbst lesen konntet – auch nicht mehr abendfüllend. Dass die wenigen, heute noch bekannten Genre-Vertreter oft mehr waren als reine FMV-Games, bestätigt die Regel: Die Teile 3-5 von Chris Roberts Wing Commander-Reihe überzeugten nicht nur als aufwändige Space Operas mit Stars wie Mark Hamill, Malcolm McDowell oder äh… Smudo, sondern auch dank stabiler 3D-Weltraumgefechte. Und mit Gabriel Knight 2: The Beast Within enthüllte Designerin Jane Jensen nicht nur die geheime Identität des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II als zünftiges Werwolferl, sondern präsentierte ihre absurde Moritat als spielerisch durchaus brauchbares Krimi-Adventure.
Ein Exot als Fluchbrecher
Den in den Neunzigern erworbenen trashigen Stallgeruch konnten interaktive Spiel-Filme bis heute nicht abschütteln. Und so ist es extrem selten geworden, dass Spieldesigner auf abgefilmte Sequenzen setzen. Auch Sam Barlows preisgekrönter Video-Krimi Her Story löste 2015 keine Trendwende aus. Und so erscheint The Centennial Case: A Shijima Story im Jahre 2022 als absoluter FMV-Exot, der gleich mal mit einem alten Vorurteil des Genres aufräumt: Das Mystery-Abenteuer um die ehrwürdige Shijima-Familie und eine hundert Jahre währende Mordserie sieht überraschend gut aus! Die traditionelle japanische Architektur des Familienanwesens und sein kunstvoll angelegter Garten inklusive spektakulär blühendem Kirschbaum liefern ein lichtdurchflutetes, atmosphärisches Kontrastprogramm zu dunklen Geheimnissen. Verantwortlich zeichnet ein erfahrenes Kreativ-Team: Regisseur Koichiro Ito (Metal Gear Solid 5), Kameramann Yasuhito Tachibana (The Naked Director, Netflix) und Produzent Junichi Ehara (NieR:Automata). Das Trio schickt euch in Gestalt von Krimi-Autorin und Hobby-Detektivin Haruka Kagami auf die Spur des Verbrechens.
Echt gespielte Emotionen
Nur durch genaues Beobachten, geschickte Fragestellungen und logische Schlussfolgerungen hat die Schriftstellerin eine Chance, aus einem anfangs wirr erscheinenden Geflecht von Legenden, unaufgeklärten Morden und verdächtigen Familienmitgliedern das Geheimnis des Shijima-Clans zu enträtseln. Um möglichst wenig zu spoilern, hier nur die Eckdaten: Eiji Shijima, mittlerer Sproß der aktuellen Familien-Generation, heuert seine Kumpeline Haruka an, um ihn nach langen Jahren der Abwesenheit in sein Elternhaus zu begleiten. Eiji hat sich vom Rest der traditionell lebenden Shijimas entfremdet und wittert Übles beim anstehenden Kirschblüten-Ritual. Zu Recht, denn schon bald erschüttern Gewalttaten den Haussegen, buchstäbliche wie metaphorische Kellerleichen werden ausgebuddelt und alte Geschichten um die angeblich Unsterblichkeit verleihende Toki-Frucht gewinnen neue Aktualität.
Das Ensemble, allen voran die sympathische Hauptdarstellerin Nanami Sakuraba, trägt die für ein FMV-Spiel überraschend umfangreiche Handlung mit solidem Schauspiel. Mimik und Gestik wirken stets klar lesbar, dadurch aber wenig subtil, an der Grenze zur Übertreibung. Das hat einen einfachen Grund: In den Filmszenen der Shijima Story müsst ihr vor allem genau beobachten. Oft verbirgt sich die Lösung eines Falles in einem unscheinbaren Nebensatz und die Emotionen der Beteiligten liefern darauf wichtige Hinweise. Der prüfende Blick in deren real gefilmte Gesichter funktioniert deutlich besser als z.B. das uncanny Minenspiel der 3D-Charaktere aus Rockstar Games‘ modernem Detektiv-Klassiker L.A. Noire. Dass die Schauspieler immer wieder unnatürlich lange Pausen machen müssen, damit das User-Interface mögliche Entscheidungen einblenden kann, verstärkt allerdings den Eindruck des virtuellen Krimidinners. Aber wer sich darauf einlässt und kein hyperrealistisches Dokumentartheater erwartet, bekommt sechs unterhaltsame Kapitel mit japanischer oder (mäßiger) englischer Tonspur.
Einige der FMV-Games der letzten Jahre:
Außerdem gab es noch Remaster der mehr oder weniger trashigen Titel:
Ich hatte gestern noch halbherzig das Netz abgesucht, aber unter MAN!AC nur Rückblicke u.ä. gefunden. Mit anyMAN!AC klappt es besser und sofort eine meiner Lieblingsparodien gefunden "The Twin Sepps", herrlich
Und: nein, nein. Eher 4Players 2.0
Wird ja langsam eine Maniac 2.0 hier.