Her Story wurde von Sam Barlow entwickelt. Er hat u.a. bei den Climax Studios an Silent Hill: Shattered Memories gearbeitet, das 2010 auf Wii sowie später auf PlayStation-Systemen für spannenden Horror sorgte und 86% im Test einheimsen konnte. Das Spieldesign konzentrierte sich nicht nur auf Action und Erkundung, sondern auf psychologisch interessante Situationen: Man musste in Gesprächen und Therapiesitzungen einige scheinbar harmlose Fragen beantworten, was sich wiederum auf den Charakter, den Verlauf sowie die möglichen Auflösungen des Abenteuers auswirkte. Ihr kennt es nicht? Holt es nach!
Hier schließt sich auch der Kreis zu “Her Story”, denn es geht in diesem kleinen Spiel um ein interaktives Verhör mit offenem Ende. Ein Mann aus dem englischen Portsmouth wurde im Sommer 1994 ermordet. Was ist damals geschehen? Findet es heraus! Seine Frau meldete ihn als vermisst und wurde daraufhin mehrmals von unterschiedlichen Polizeibeamten verhört. Das Ganze wurde per Videokamera aufgezeichnet und archiviert. Bis hierher klingt das vielleicht nach einem gewöhnlichen Detektivspiel, aber Sam Barlow sorgt ähnlich wie in Silent Hill für eine kreative Storytelling-Erfahrung und eine mysteriöse Zeitreise.
Ein Archiv mit sieben Siegeln
Das Besondere ist: Man interviewt niemanden direkt und hat auch keine Zeugen zur Auswahl, sondern wühlt viele Jahre später in einem Computerarchiv der
Polizei, das lediglich die Aussagen der Frau anbietet. Dort wurden die VHS-Kassetten der sieben Verhörsitzungen mit ihr so fragmentiert und stenografiert, dass man per Texteingabe nach einzelnen Themen in über zweihundert Videoclips suchen kann, die manchmal nur ein paar Sekunden lang sind. Leider gibt es keine deutsche Übersetzung, aber mit solidem Schulenglisch sollte man die Recherche meistern können.
Man sitzt allerdings nicht vor einem modernen PC mit Googlefunktionen und Breitbild, sondern vor einem alten Polizeirechner mit Grünstich und gefühlten 15 Zoll. Wenn das Spiel startet, schaut man auf einen gewölbten Bildschirm mit schlechter Auflösung und leichten Spiegelungen – wer will, kann das Ganze schärfer stellen, aber dann geht der Röhren-Charme verloren. Man arbeitet auf einem Desktop mit zwei einleitenden Textdokumenten, einem Minispiel sowie dem geöffneten Polizei-Programm samt Suchleiste. Dort steht ein erster Begriff: “Murder”. Bestätigt man die Eingabe, erscheinen fünf Videos in einer Reihe – und dort schauspielt Viva Seifert die Frau des Ermordeten großartig.
Überzeugendes Schauspiel
Dass sich der Einsatz von echten Schauspielern lohnt, hat nicht nur Heavy Rain demonstriert. Allerdings hat man es hier nicht mit Motion Capturing zu tun, sondern mit realen Aufnahmen – das mag ich eigentlich nicht, weil es ein Stilbruch und damit ein Stimmungskiller sein kann. Aber in diesem Fall verleiht es dem Ganzen einen angenehm dokumentarischen Charakter. Kaum hat man sich drei, vier Szenen mit der Frau angehört, entsteht aufgrund der extrem authentisch wirkenden Verhörsituation eine emotionale Verbindung. Obwohl sich die Räumlichkeiten bei der Polizei natürlich kaum ändern, wechseln Frisur, Kleidung sowie das Auftreten der Frau – mit einigen Überraschungen. Sie spielt auf der kompletten Klaviatur emotionaler Zustände, von trotzig bis ängstlich, keck bis schüchtern, genervt bis neugierig, gelangweilt bis wütend.
Die Neugier ist natürlich groß: Man weiß ja weder wer man selber ist, also warum man überhaupt ein Interesse an diesem Mord hat, noch was genau geschehen ist – das ist quasi ein Verhör mit sieben Siegeln. Man kann in alle Richtungen ermitteln und theoretisch jedes Wort eingeben, aber es werden immer nur fünf Videos angezeigt, obwohl vielleicht siebzig relevant sind – dann hilft nur, den Begriff zu wechseln oder ihn weiter einzugrenzen: Statt “simon” hilft dann vielleicht “simons parents” weiter. Und kaum schaut man sich die Videos an,
tauchen vielleicht andere Namen auf. So sammelt man weiter Sichworte und Fakten, um sich wie in einem Puzzle zunächst einen Rahmen über Beziehungen und Berufe der Beteiligten zu schaffen. Schön und gleichzeitig etwas unwirklich ist, dass es akustisches und/oder visuelles Feedback wie kleine Melodien oder Reflektionen auf dem Bildschirm bei bestimmten Treffern gibt – dann weiß man, dass man eine interessante Spur aufgenommen hat.
Trotzdem ist die Suche nach der Wahrheit aus zwei weiteren Gründen gar nicht so leicht: Erstens gibt es keine modernen Sortierfunktionen, die mich z.B. nur chronologisch vorgehen oder gar archivieren lassen. Bei der Recherche hilft lediglich, dass man die Videos beschriften und ein wenig ordnen kann. So lassen sich z.B. Uhrzeiten oder Begriffe direkt unter einem Clip notieren; alles Geschriebene wird dann automatisch in einer Suchliste gespeichert. Zweitens muss man die komplexe Persönlichkeit der Frau erstmal einordnen. Denn kaum glaubt man, dass man sie durchschaut hat, sorgt der nächste Videoclip vielleicht für einen Widerspruch oder gar einen Bruch in der bisherigen Analyse. Man wird also auch psychologisch überrascht und muss all die Mosaike mehrmals neu ordnen, um sich ein Bild zu machen. Es gibt dabei keinerlei Rätsel oder andere klassische Spielmechaniken.
Fenster in ein privates Milieu
Aber je länger man notiert und wühlt, desto weiter öffnet sich ein Fenster in ein privates Milieu. Das lässt nicht nur auf die sozialen sowie familiären Zustände im englischen Portsmouth der 90er Jahre blicken, auf eine Kindheit sowie die Entwicklung von Beziehungen, auf schöne und tragische Momente, sondern auch tief in die Psyche einer Frau mit all ihren Sorgen, Gefühlen, Macken und Erinnerungen. Ich kann an dieser Stelle nicht auf die erzählerischen Hintergründe eingehen, weil jedes Stichwort natürlich sofort etwas verraten würde. Nur so viel: Diese Reise an der Tastatur lohnt sich. Es gibt nach knapp zwei Stunden zwar eine scheinbare Auflösung samt Abspann, aber dann hat man vielleicht noch nicht alles gesehen. Und es gibt zumindest bei einigen Suchergebnissen Momente, da wirft Silent Hill einen surrealen Schatten auf die rationale Recherche.
Finanziert wurde Her Story übrigens vom Indie Fund. Das ist eine Organisation, die von erfolgreichen unabhängigen Entwicklern gegründet wurde, um kommende Projekte zu unterstützen – und zwar auf andere Art als im klassischen Modell über einen Publisher. Mehr dazu auf der offiziellen Webseite.
Habe es auch einmal durchgespielt - und mich sogar bis zu ner kompletten Database durchgearbeitet.
Konzept = super. Also so richtig.
Ansonsten hatte es mit der Zeit dann doch so einige Mängel.
Bin zu Beginn komplett reingekippt. Aber irgendwie war ich nach kürzester Zeit schon an dem einzigen Story-Unterbrecher-Punkt (könnte man als "Ende" bezeichnen).
Da kannte ich mich noch gar nicht aus. War wohl irgendwie Zufall.
Im kommenden zweiten Teil ist dann hoffentlich auch etwas mehr Geld für eine bessere Schauspielerin übrig...
sie war nicht schlecht - aber richtig überzeugend fand ich sie jetzt auch meistens nicht.
Speziell die Situation, dass sie eigentlich ja vor Beamten sitzt, man diese aber nie hört oder bemerkt, machen die "Dialoge" rasch unglaubwürdig und lassen sie irgendwie seltsam erscheinen. Das war sicher auch schwierig für die Schauspielerin da irgendwelche Interaktionen zu spielen.
Es gab ja dieses Bildschirmflackern + Reflektionen am Bildschirm bei wichtigen Clips. Hier hätte ich es gut gefunden, wenn man unten in der Session noch irgendeine sinnvolle Reihenfolge zusammenbasteln müsste um dann sowas wie ein richtiges Ende zu triggern.
Ich verstehe schon warum das nicht gemacht wurde und das würde das Konzept durchaus etwas verändern, aber wenn man am Ende nur noch irgendwelche belanglose kurze Clips über Kaffee etc. aufdeckt um die Database vollzubekommen, geht dem Spiel einfach immer mehr die Luft aus. Hab die letzte Stunde quasi keinerlei neue Erkenntnisse gewonnen. Fand ich schade.
Dennoch: sehr schönes Experiment und ich bin gespannt auf Teil 2.
Ich habe mir das Spiel letzte Woche ebenfalls zugelegt und möchte auch mal kurz meine Meinung dazu abgeben.
Die Grundidee ist an sich eine gute und es könnte auch ein interessantes Spiel sein, ABER ...
... die schauspielerische Leistung ist nicht mal auf C-Movie Niveau. Entweder fehlen Emotionen komplett oder sie sind im nächsten Video dann derart überzeichnet, dass es schon wieder kitschig wirkt.
Von daher kann ich die positive Wertung hier nicht nachvollziehen, es sei denn man hat mehr die Grundidee selbst als ihre Umsetzung bewertet.
Ganz ehrlich: Wenn man sich die Spiele-Charts anschaut, weiß man doch schon, was von dieser Studie zu halten ist. Wenn du die Leute fragst, ziehen sie sich die besten Argumente aus dem Arsch. In der Realität kaufen sie sich dann das nächste Call of Duty und das aus ganz anderen Gründen.
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Vom Spiel bin ich ziemlich begeistert. Die Atmosphäre wirkt einen unglaublichen Sog auf mich aus; mehrfach durfte ich feststellen, wie mir ein wohliger Schauer über den Rücken lief. Der tiefe Blick in das Seelenleben der Ehefrau veranlasst einen auch jeden noch so kleinen Videoschnipsel finden zu wollen, wenngleich das zum Ende hin immer schwieriger wird. So ist in manchen Einspielern gerade mal ein(!) Wort zu hören, was die 100% vermutlich eher zum Glücksspiel werden lässt.
Auf der anderen Seite kann ich auch gut verstehen, dass das Spiel für viele nichts ist. Aus meinem Bekanntenkreis kenne ich nicht viele potentielle Fans. Ein Faible fürs Leise, Sicheinlassen und kaum Angst vor zu wenig "Gameplay" sollte man schon mitbringen. Das Konzept geht für mich hier auch deshalb auf, weil die Präsentation neu und erfrischend anders ist (was aber die Macher nicht von einer Fortsetzung abhalten soll )
Zum Schluss noch eine Frage: Gibt es die Möglichkeit, sich gefundene Passagen der Database nacheinander anzusehen, oder habe ich entsprechende Funktion einfach übersehen?
PS: Die Schauspielerin heißt Viva Seifert, liebes 4p-Team.