Langsam dreht Edith an dem Schloss, bis es mit einem Klicken aufspringt und ein weiterer Geheimgang sichtbar wird. Sie kriecht hinein und sieht zum ersten Mal das Zimmer ihrer verstorbenen Verwandten Barbara. Ihre Mutter hat es wie so viele andere R\u00e4ume versiegelt und wie einen alten Schatz geh\u00fctet. Als w\u00fcrde sie eine fremde Welt erforschen, schaut sich Edith langsam in Egosicht um. In den Regalen, auf den Tischen und an den W\u00e4nden wird das Leben eines Teenagers sichtbar, der mal ein gefeierter Kinderstar war – in den Vitrinen gl\u00e4nzen noch die Pokale, das h\u00fcbsche Kleid liegt auf dem B\u00fcgelbrett.
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![\"[GUI_STATICIMAGE(setid=78117,id=92505338)]\"](\"https:\/\/4players.fdpub.de\/wp-content\/uploads\/sites\/3\/2024\/04\/92505338-vollbild.jpg\" "\\"[GUI_STATICIMAGE(setid=78117,id=92505338)]\\"")
<\/figure>\nAber warum ist Barbara 1960 mit 16 Jahren gestorben? Edith wei\u00df nichts \u00fcber ihren Tod. Und auch nichts \u00fcber den Tod all der anderen Verwandten, die in diesem riesigen Anwesen mit seinen versteckten Zimmern starben. Sie wei\u00df nur, dass sie die einzige \u00dcberlebende ist, die jetzt im Jahr 2010 in dem verlassenen Haus in der N\u00e4he Washingtons nach Antworten sucht. Auf dem kleinen Schminktisch findet sie einen Gruselcomic aus dem Jahr 1951: “Dreadful Stories”. Ein wei\u00dfes Leuchten zeigt an, wenn man interagieren kann. Mit der L2-Taste schaue ich den Comic n\u00e4her an, dessen Titel lautet: “Das \u00fcberraschende Ende der Barbara Finch”. K\u00fcrbiskopfmonster beginnt zu sprechen. Es liest die Einleitung der Geschichte vor, in der Barbara ihre gefeierte Stimme aus Kindertagen verloren hat. Sie will sie zur\u00fcck, schl\u00fcpft in die Opferrolle und der Regisseur fordert sie auf, den ganzen Terror in ihren Schrei zu legen. Pl\u00f6tzlich h\u00f6rt und schaut man nicht mehr nur zu, sondern kann aktiv in den Comicbildern spielen, schl\u00fcpft in Barbaras Haut, erkundet R\u00e4ume und schl\u00e4gt mit dem Baseballschl\u00e4ger auf Monster, w\u00e4hrend der K\u00fcrbiskopf das Horrorst\u00fcck bis ins morbide Finale gen\u00fcsslich weiter erz\u00e4hlt. Aber hier wird auf eindrucksvolle Art demonstriert, welche narrative Kraft in diesem Medium steckt, wenn man die interaktiven M\u00f6glichkeiten des Spiels mit einer guten Geschichte verkn\u00fcpft. So wird nicht nur aus einem Comic ein Tor in die Vergangenheit, sondern es gibt eine Vielzahl an Perspektivwechseln, die einem die Pers\u00f6nlichkeit und das Schicksal eines Verwandten n\u00e4her bringen – diese reichen von realistisch \u00fcber unheimlich bis surreal. Man erlebt Fotosessions, l\u00e4sst Drachen steigen, schaukelt in den Himmel, zieht als Katze los, fliegt wie eine Eule oder klettert hinab in ein U-Boot. Nur wartet am Ende des scheinbar Trivialen immer auch das Morbide. Immer wenn man den mysteri\u00f6sen Tod eines Verwandten nacherlebt hat, zeichnet Edith sein Gesicht in den Familienstammbaum – und der reicht zur\u00fcck bis zu Odin Finch, der 1880 in Norwegen geboren wurde und 1936 zusammen mit seiner Frau Ingeborg nach Amerika auswanderte. Nat\u00fcrlich wurde der Name des ein\u00e4ugigen Gottes nicht umsonst gew\u00e4hlt. Die Story spielt auch mit M\u00e4rchen und Folklore – vor allem die Art der Landung in Amerika erinnert an isl\u00e4ndische Sagas. In den Regalen des riesigen Anwesens findet man neben Kochb\u00fcchern f\u00fcr Wikinger oder altnordischen Mythen aber auch modernere Schauerliteratur wie “Der K\u00f6nig in Gelb” – schade ist, dass sich viele Buchtitel oft wiederholen. What Remains of Edith Finch ist das beste Erz\u00e4hlspiel der letzten Jahre. Die magische Traurigkeit erinnert an Ray Bradbury, das morbide Flair an Tim Burton, viele Motive an Jules Verne und alte Sagen – dabei dreht sich alles um r\u00e4tselhafte Tode in einem Haus, das man wie ein Entdecker \u00e0 la Nemo erkundet. Die Entwickler demonstrieren auf eindrucksvolle Art, welche narrative Kraft in diesem Medium steckt, wenn man seine interaktiven M\u00f6glichkeiten mit einer guten Geschichte verwebt, wenn Entdeckungen in der Gegenwart in historische R\u00fcckblicke und Minispiele \u00fcbergehen. Leider gibt es nur kleine Finger\u00fcbungen und keine anspruchsvollen R\u00e4tsel, aber die m\u00e4rchenhafte Erz\u00e4hlweise sorgt immer wieder f\u00fcr interaktive \u00dcberraschungen – man folgt in der Rolle einer 17-j\u00e4hrigen geheimen Wegen in die Vergangenheit der eigenen Familie, in der man ebenso surreale wie bewegende Kurzgeschichten aus der Perspektive der verstorbenen Verwandten erlebt. Nicht alle bieten dasselbe dramaturgische Niveau, es gibt mitunter kleine Steuerungst\u00fccken sowie Bildratenprobleme. Aber wer Storytelling-Experimente \u00e0 la Dear Esther<\/a>, Gone Home<\/a>, The Vanishing of Ethan Carter<\/a> oder Everybody’s Gone to the Rapture<\/a> mag, erlebt eine zauberhaft inszenierte Geschichte weitab von emotionalem Kitsch, aber dennoch unheimlich bewegend. Falls sich jemand fragt, ob zwei bis drei Stunden f\u00fcr ein Spiel nicht viel zur kurz sind: Nein. Vor allem nicht, wenn man am Ende eine Tr\u00e4ne verdr\u00fccken muss.<\/p>\n<\/div>\n<\/div>\n\n What Remains of Edith Finch ist ein sehr gutes Erz\u00e4hlspiel. Es demonstriert auf eindrucksvolle Art, welche narrative Kraft in diesem Medium steckt, wenn man seine interaktiven M\u00f6glichkeiten mit einer guten Geschichte verwebt.<\/p><\/div><\/div> Stellt euch vor, ihr findet einen Zauberw\u00fcrfel mit in sich verdrehten Geschichten. Und ihr k\u00f6nnt ihn betreten, um dem labyrinthischen Schicksal einer Familiengeschichte zu folgen. Das ist Edith Finch. <\/p><\/div><\/div> Anzeige: What Remains of Edith Finch PS4 (limited physical release) kaufen bei
Vom Spiel zum Comic ins Spiel<\/strong>
Mit dem rechten Analogstick schlage ich die erste Seite auf und ein<\/p>\n![\"[GUI_STATICIMAGE(setid=78117,id=92505329)]\"](\"https:\/\/4players.fdpub.de\/wp-content\/uploads\/sites\/3\/2024\/04\/92505329-vollbild.jpg\" "\\"[GUI_STATICIMAGE(setid=78117,id=92505329)]\\"")
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Als Edith den Comic beendet, bekommt sie eine schreckliche Ahnung vom Tod ihrer Verwandten. Und als Spieler erlebt man ein weiteres Mal, wie kreativ die Entwickler von Giant Sparrow ihre Geschichte erz\u00e4hlen, indem sie dynamisch zwischen passiver und aktiver Teilnahme wechseln, so dass man vom Zuh\u00f6rer zum Teilnehmer wird. Entdeckungen in der Gegenwart, wie dieser Comic, gehen zu gespielten historischen R\u00fcckblicke und Minispielen \u00fcber. Zwar schwanken diese stark in ihrer Qualit\u00e4t, es gibt keine anspruchsvollen R\u00e4tsel, sondern lediglich Finger\u00fcbungen und die Steuerung kann auch mal zicken. Au\u00dferdem h\u00e4tte ich sehr gerne mehr Freiheiten in der Interaktion mit Gegenst\u00e4nden gehabt, denn man kann bis auf die angezeigten Interaktionspunkte leider nichts n\u00e4her untersuchen, obwohl sich angesichts des verwinkelten Hauses mit seinen Geheimg\u00e4ngen vielleicht einige klassische Mechaniken \u00e0 la Obduction<\/a> angeboten h\u00e4tten.
Eskapismus in der Fischfabrik<\/strong>
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Oder man ertr\u00e4gt den Alltag in einer Fischfabrik, bis man mitten in der Routine der gek\u00f6pften Lachse pl\u00f6tzlich ein Abenteuer spielt – aber Realit\u00e4t und Fiktion bleiben hier spielmechanisch verbunden, so dass man in seinem Traum nur dann T\u00fcren \u00f6ffnet, wenn man den Lachs weiter enthauptet. Nein, das ist nicht besonders fordernd. Aber diese Szene geh\u00f6rt zu den genialen Momenten, in denen das Interaktive das Metaphorische nochmal verst\u00e4rkt. So kann man sich gut mit den Tagtr\u00e4umen des Charakters identifizieren und seinen tragischen Eskapismus nachvollziehen. Und sie wird wie fast alle diese Kurzgeschichten auch unheimlich gut beendet, so dass man zur\u00fcck in Ediths Haut weitere Zimmer durchforstet.
Die Familienchronik f\u00fcllt sich<\/strong>
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Trotzdem muss man die Hingabe f\u00fcr Kleinigkeiten nochmal ausdr\u00fccklich loben. Es macht deshalb richtig Spa\u00df, dieses Haus zu erkunden, weil nicht nur das Interieur und die Architektur so gem\u00fctlich und verschroben wirkt, sondern weil all die B\u00fccher und Fotos aus der Vergangenheit eben auch zur Geschichte beitragen. \u00c4hnlich wie in Dear Esther<\/a>, das \u00fcbrigens ebenso subtil zitiert wird wie The Unfinished Swan<\/a>, begleitet einen dabei die (nur auf Englisch verf\u00fcgbare) Stimme der 17-j\u00e4hrigen Edith, die sich immer noch \u00fcber dieses Haus und vor allem ihre Mutter und Gro\u00dfmutter wundert. Freut euch nicht nur auf zauberhafte, unheimliche und \u00fcberraschende Momente, sondern nach zwei bis drei intensiven Stunden auch auf ein ausgezeichnetes Ende, das mir zumindest eine Tr\u00e4ne entlockte.<\/p>\n\nFazit<\/strong><\/h3>\n\n\n
Wertung<\/strong><\/h3>
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