Schmerzhafte Erinnerungen


Auf dem Papier soll man sich nur das Haus anschauen, in dem man groß geworden ist: Welche Möbel könnte man verkaufen? Welche Bilder oder andere Erinnerungsstücke will man behalten? Für Tyler und Alyson geht es nach dem Tod ihrer Mutter allerdings vor allem darum, sich gemeinsam an die schrecklichen Geschehnisse ihrer Kindheit zu erinnern und diese wie ein Puzzle zusammenzusetzen.  

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Welches Erinnerungsstück aus der Kindheit ist wertvoll und welches kann weg? © 4P/Screenshot
Ähnlich wie in E.A. Poes Kurzgeschichte „Der Untergang des Hauses Usher” symbolisiert das Elternhaus die zerrüttete Beziehung der Familie: Egal ob Keller, Kinderzimmer oder das mit einem Schloss versperrte Zimmer der Mutter – jeder Raum löst bei Tyler und Alyson schmerzliche Erinnerungen aus. Diese dienen in Tell me Why als Hauptspielmechanik: Anstatt die Zeit zu manipulieren, können die Zwillinge hin und wieder Situationen aus der Vergangenheit schemenhaft in der Spielwelt auftauchen lassen und sich über Knopfdruck daran erinnern. Darunter sind zwar auch schöne Aspekte, wie sie sich z.B. Märchengeschichten erzählten oder ein Brettspiel erfanden. Die meisten Erinnerungen sind jedoch traumatisch und führen alle zu der einen fatalen Nacht, die Alyson und Tyler bis heute daran hindert, ein ruhiges Leben zu führen. Da die beiden durch den Tod von Mutter Mary-Ann gezwungen sind, das Elternhaus zu verkaufen, beschließen sie sich ihrem Trauma endlich zu stellen und herauszufinden, welches Geheimnis ihre Mutter all die Jahre für sich behalten hat.

Interessante Charaktere

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Schon als Kind stellt Tyler fest, dass er sich nicht wie ein Mädchen fühlt. © 4P/Screenshot
Tylers Erinnerungen fügen dabei eine weitere interessante Facette hinzu: Als Transgender-Mann erinnert er sich z.B. an Auseinandersetzungen mit seiner Mutter, die auf den ersten Blick nicht akzeptieren wollte, dass er sich bereits als Mädchen nicht im richtigen Körper fühlte. Auch die Gespräche mit Michael, bei denen man sich dafür entscheiden kann, ob sie eine romantische Beziehung eingehen, sind emotional und authentisch geschrieben. Die anderen Nebencharaktere wie Sam oder Tessa, wirken mit ihrer individuellen Beziehung zu den Zwillingen ebenfalls glaubwürdig und sorgen für überraschende Wendungen in der Geschichte. Schließlich hat DONTNOD mit Tyler einen der wenigen glaubhaften Trans-Protagonisten geschaffen, dessen persönliche Reise sich wunderbar in den Hauptplot eingliedert. Toll ist auch, dass die Entwickler darauf geachtet haben, stets seinen Geburtsnamen (Deadname) zu vermeiden, was bei vielen Transgender-Personen negative Erinnerungen auslösen kann.  

Schade ist, dass Alysons Schicksal etwas zu wenig Raum bekommt: Zwar gibt es kurze Passagen, in denen sie Panikattacken hat und gezeigt wird, wie sehr sie im Alltag auf die Hilfe ihres Onkels oder besten Freunds angewiesen ist. Die meiste Zeit dreht sich die Handlung jedoch um Mutter Mary-Ann oder Tyler, wodurch ich Alysons Sicht nur wenig kennenlernen konnte.  

  1. Kann den Test nicht nachvollziehen. Weder fand ich die Steuerung schwammig noch die Technik schlecht - im Gegenteil, im Vergleich zu den Spielen vorher hat der Entwickler hier deutlich zugelegt. Tell Me Why hat in der Tat keine schwarz und weiß-Entscheidungen, dafür sehr viele kleine, die auch zeigen wollen: Im Leben sind viele Dinge kompliziert, man kann versuchen Gründe herauszufinden (wie die Zwillinge über den Tod Ihrer Mutter), aber am Ende muss man sich dann auch selbst ein Urteil bilden und abschließen lernen. Insofern finde ich Tell Me Why realistischer als vergangene ähnliche Spiele, es ist subtiler. Es gibt auch durchaus verschiedene Enden, die für die einzelnen Charaktere (nicht nur die Zwillinge) sehr unterschiedliche Auswirkungen haben. Man könnte kritisieren, dass nur wenige Entscheidungen hier wirklich etwas verändern, okay.
    Überhaupt nicht gut finde ich, wenn im Test Spoiler tief aus Episode 3 vorkommen. Das sollten Spieler wirklich selbst erleben.
    Für mich eine 8/10, auch wenn das erste Life is Strange unübertroffen bleibt.

  2. Die Kulisse ist zwar sehr stimmungsvoll, aber leider stören (...) die teils träge Steuerung. Schließlich gab es auch spielerisch zu wenig Anreize (...). Trotzdem hat mich die (...) Reise der beiden noch solide unterhalten.
    Klingt für mich sehr wie The Last Guardian :lol:

  3. Also ich bin nun durch und im Prinzip kann man an dem Titel die gleichen Dinge kritisieren, wie auch schon an LiS 2 - nur das sie hier vielleicht andere Gründe haben. Die teils weder logisch noch emotional nachvollziehbaren "Wendungen" - oft innerhalb eines einzelnen Gesprächs - um irgendwie eine Dramatik zu erzeugen, die dann aber einfach gekünstelt wirkt, die fehlende Zeit, die man der Entwicklung der Nicht-Spieler-Charaktere nicht wirklich einräumt (wenn das auch hier eher der geringen Episoden-Anzahl geschuldet sein dürfte, während es bei LiS 2 wohl eher Absicht war um das Flucht-/Roadtrip-Feeling zu stärken), die vielen Versuche, etwas als "eine große Sache" zu verkaufen, nur um sie dann in einer Nichtigkeit aufzulösen (red herring) oder Dinge, die eigentlich längst klar und offensichtlich sind, so oft zu wiederholen oder konkretisieren, bis sie auch jemand verstanden hat, der beim Spielen mehrfach eingeschlafen ist.
    Schlechter als bei LiS 2 fand ich, dass die Entscheidungen quasi allesamt nicht wirklich "wichtig" wirkten - und LiS 2 war da schon merklich schlechter als sein Vorgänger - es gab quasi in allen drei Episoden keinen einzigen Moment, wo ich kurz innehalten musste und drüber nachdenken musste, was ich da jetzt wähle. Das Resultat war meist sehr gut vorhersehbar und die zu erwartende Änderung zu der jeweils anderen Antwort schlicht nicht wirklich groß (auch wenn ich das nur an wenigen Stellen getestet habe), die "emotionale Involvierung" fehlte oft einfach.
    Besser war, dass man sich beim Cast wieder auf eine überschaubare und dauerhaft präsente Gruppe an Charakteren beschränkt hat - und wie gesagt, mit etwas mehr Zeit hätten die alle durchaus gut werden können.
    Rätsel und Co waren "genretypisch" nicht der Rede wert (und die, die wenigstens etwas anspruchsvoller waren, waren optional), Grafik, Sound und Technik waren eben "typisch LIS" und die Sprecher waren super (naja, bis auf Michael... der klang für meine Wahrnehmung eigentlich durchgehend stoned...

  4. dessoul hat geschrieben: 11.09.2020 18:42 Das stimmt. Das allererste, was in der Werbung stand, war "Transgender Charakter". Ich war dann deswegen ein wenig neugierig. Aber obwohl das ständig angesprochen wird, spielt es nicht wirklich eine Rolle in irgend einer Form. Ich fand die Umgebung auch ziemlich harmlos. Alle akzeptieren fast sofort, dass da nicht mehr ein Mädchen steht, sondern ein Typ. Ich bin in der Großstadt aufgewachsen und hab damit leben müssen, dass ich ständig für die kleinste Abweichung von der Norm von irgend welchen Wildfremden Arschlöchern angegangen wurde. Ich hab lange Haare? Irgend ein Fremder macht mich dafür im Bus an. Ich trage einen Pulli von Northdale, weil ich das Universitäts-Logo toll fand und wurde sofort von irgendwelchen Typen als rechte Sau bezeichnet. Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, wo ich ständig ein Messer bei mir tragen musste, weil die Gefahr dauernd da war, dass mich irgend ein Wildfremder versucht anzugehen. Ich sass deswegen bei dem Spiel deswegen da und hab mich dann immer gefragt: und jetzt was?
    Die hätten sich das Transgender-Thema auch sparen können: Es hat keinerlei Auswirkungen im Spiel. Nichts von all den Folgen, die so eine Geschlechtsumwandlung nach sich zieht. Die ständigen Hormonkuren, die man mit all ihren Nebeneffekten zu sich nehmen muss, Auswirkungen aufs Sexualleben, feindliche Reaktionen aus dem Umfeld: nichts davon taucht auf.
    Man kann das als Vor-oder Nachteil sehen. Es heisst ja auch in den Berichten, dass das Thema Transgender ein Teil des Spiels ist, man aber nicht zu einer Meinung genötigt wird. Ok, warum auch nicht?
    Du hast es gut umschrieben, man kann es allerdings auch anders sehen.
    Denn einige Transgender-SpielerInnen sind es mittlerweile auch leid bzw. darin übersättigt, dass wenn solche Thematiken in Unterhaltungsmedien auftauchten, sie fast immer als Steilvorlage für Misery Porn (bestehend aus Diskriminierung, psychischen Problemen, etc. pp.) herhalten durften:

    In der Hinsicht könnte...

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