Eine Frage des Gewissens

Manche Situationen erfordern dagegen mein Verhandlungsgeschick: Wie kann ich den hochnäsigen, prinzipientreuen und autoritätshörigen Oberaufseher davon überzeugen,  mich durch die versperrte Gittertür zu lassen. Dass ihn Drohungen nicht beeinflussen, hat er mir bereits vorher verraten. Lasse ich dem Barbaren in mir freien Lauf und drohe, seiner Familie etwas anzutun? Versuche ich ihm darzulegen, dass er von den Häftlingen hinter mir bestimmt weniger Gnade zu erwarten hat? Schön, dass mich das Spiel in fast jedem noch so unwichtigen Dialog vor mehrere Antwortmöglichkeiten stellt, die einschneidenden Einfluss auf die spätere Handlung nehmen sollen. Wenn ich den Cursor über die Multiple-Choice-Phrasen bewege, erläutert mir Kian sogar seine Gedankengänge und Motivationen zur entsprechenden Antwort. Im konkreten Fall setze ich darauf, dass der korrekte Oberaufseher auch in brenzligen Situationen an seinen konservativen Familienwerten festhält.

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Zahlreiche Antworten und Entscheidungen wirken sich auf den Spielverlauf aus. © 4P/Screenshot

Was nutzt sein Klammern an die Vorschriften, wenn seine Kinder ohne Vater aufwachsen müssen? Das Argument zieht – er ist durch und durch Patriarch und will seine Kinder nicht der Erziehung der „unfähigen“ Mutter überlassen. Ich stürme durchs Tor und kümmere mich ums nächste Inventarrätsel.

Neuanfang

Ob und wie die Entscheidungen tatsächlich Einfluss auf den späteren Spielverlauf nehmen, lässt sich noch nicht bewerten. Im dritten Kapitel ließen sich erste Alternativ-Routen feststellen. Statt für ein angesehenes Labor Algentests durchzuführen, landete ich in der heruntergekommenen Werkstatt einer Untergrund-Tüftlerin und musste testen, ob ihr schrottreif aufgegabelter „Scheißbot“ noch zu irgendwas nutze ist. Kapitel 3 versetzt mich nämlich wieder in Zoes Welt. Sie ist mittlerweile aus dem Koma erwacht, leidet an Gedächtnisverlust und versucht in der Großstadt Propast, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Dazu jobbt sie ein wenig im Labor und unterstützt in der Freizeit den Wahlkampf einer Partei. Auch hier sollen meine Aktionen und Antworten Einfluss auf den späteren Story-Verlauf nehmen.

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Rührend: Der talentarme “Scheißbot” entdeckt auf unserem Streifzug durch Propast seine Bestimmung. © 4P/Screenshot

Als mein Wahlkampfleiter von einem chinesischen Unterweltboss bedroht wird, gehe ich natürlich dazwischen – zumindest verbal. Durch die Aktion stehe ich hinterher im Fokus seiner offenbar einflussreichen Organisation. Zoes Freund wird später sogar richtig zickig, als er von ihrer „Heldentat“ erfährt. Als investigativer Journalist wird er zwar ohnehin von den Syndikaten und anderen Strippenziehern beobachtet, mit solch einer Schlägertruppe hätte ich mich seiner Meinung aber nicht anlegen sollen. Auch in der Beziehung greift das Entscheidungs-System: Ich kann ihm entgegnen, dass mir sein Ton nicht gefällt – oder einen Streit vermeiden, indem ich abwiegle und den harmonischen Abend zu zweit nicht gefährde, auf den Zoe sich so lange gefreut hat. Interessant ist, dass ich ähnlich wie bei Sherlock Holmes hinterher die sozialen und ethischen Entscheidungen anderer Spieler nachlesen kann: Ganze 91,2% der Spieler hatten keine Lust auf einen Streit mit Zoes Freund und haben nicht auf den Tisch gehauen.  In der Rolle von Kian haben nur 17,4% nicht zugestochen, als sie ein leidender Mithäftling um den Todesstoß angebettelt hat.

Ein Wust von Bugs

Dumm nur, wenn ich aufgrund eines Bugs nicht sehen kann, wofür ich mich eigentlich entscheiden soll. Der erläuternde Gedankengang zur Pärchenstreit-Entscheidung wurde bei mir einfach nicht angezeigt – und auch anderswo strotzen die Dialoge nur so vor technischen Fehlern: Mal werden die falschen Sätze abgespielt, anderswo wechselt die Sprachausgabe kurzzeitig ins Englische und manchmal schweigen die Figuren sich sogar an, statt den vorgesehenen Dialog abzuspulen. Wer die Untertitel anschaltet, bekommt immerhin dort alles mit – nervig ist des Kuddelmuddel trotzdem. Und wenn sogar komplette Texteinblendungen bei Entscheidungen verschwinden, ist das natürlich besonders ärgerlich.

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Propast wurde stimmungsvoll gestaltet, die Gesichtsanimationen können aber nicht mit Beyond: Two Souls mithalten. © 4P/Screenshot

Man merkt an allen Ecken und Enden, dass das Team sich mit dem relativ großen Stadtviertel im dritten Kapitel übernommen hat: Mit einer GeForce GTX 770 muss ich die Einstellungen gewaltig herunterregeln, damit die Bildwiederholrate in belebten Arealen nicht in den einstelligen Bereich fällt. An manchen Orten kann ich sogar frei durch die Wand aus der Karte herausspazieren und die nackte Polygon-Struktur von außen betrachten.  Dazu kommen starke Clipping-Fehler und andere Schönheitsfehler in der eigentlich hübsch gestalteten Stadt. Der Abspann blieb bei mir sogar komplett schwarz.

 

  1. Ich war ein riesen Fan der Serie und zähle die beiden Teile des Spiels vor diesem zu den besten die ich je gespielt habe.
    Die Betonung liegt auf "war". Das Spiel war eine durchgängige Enttäuschung für mich. Was überraschend kam da ich meine Erwartungen bewusst niedrig hielt weil Fortsetzungen fast immer schwächer sind als die Originale.
    Werde nicht drauf eingehen wieso und weshalb weil ich gerade keine Lust habe einen Aufsatz zu schreiben. Wollte hier nur beitragen das dieser Test mal wieder sehr präzise ist. Chapter 2 werde ich mir bewusst sparen weil mir meine Zeit zu schade ist. Das sagt schon genug von jemanden der die vorigen Teile jeweils drei mal durchgespielt hat über die Jahre.
    Gute Arbeit. An die Tester. Nicht die Entwickler.

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