Aus Not wird Tugend
Schon bei der Ankündigung im Rahmen der Microsoft-Pressekonferenz ließen mich Sufjan Stevens melancholische Gitarrenklänge neugierig aufhorchen. Wie in Life is Strange beweisen Dontnod, dass sie genau wissen wie man Spieler in eine bestimmte Stimmung versetzt. Während Stevens sein Lied „Death with Dignity“ haucht, indem er von Verlust und Trauer erzählt, werden wir an einen neuen Schauplatz geführt: Ein verschneites Haus mitten im Nirgendwo, in dem ein Junge so tut, als könnte er sein Spielzeug wie ein Superheld in die Luft beamen. Erneut wird man direkt in das Geschehen eingebunden: Soll Chris‘ Superhelden-Persona „Captain Spirit“ einen Helm tragen oder eine Maske? Bunt oder einfarbig?
Danach steht einem frei, welche Aktionen von Chris‘ selbstgezeichneter „Superaufgabenliste“ erledigt werden sollen. Man kann mit seinen zahlreichen Spielzeugen interagieren, Teile seines Kostüms suchen, eine geklaute Zigarette im Baumhaus rauchen oder Erinnerungen an Verstorbene finden. Im Haus und Garten kann man mit zahlreichen Gegenständen interagieren, um etwas über Chris herauszufinden. Zusätzlich kann man gelb markierte „Superhelden-Fähigkeiten“ nutzen, mit denen beispielsweise der Fernseher nur mit der Kraft der Gedanken angeht.
So naiv und verspielt die Geschichte beginnt, so schnell wird deutlich, dass Dontnod erneut tragische Schicksale thematisieren will. Als der kleine Superheld von seinem Vater zum Frühstück gerufen wird, gibt es keine Familienidylle wie aus dem Bilderbuch. Zwischen Speck und Eiern erfahren wir, dass seine Mutter verstorben ist und Chris‘ Vater seinen Kummer im Alkohol ertränkt. Durch spätere Gespräche und die Erkundung des Hauses kommen immer mehr traurige Facetten ans Licht.
Auf der E3 verrieten die Entwickler, dass sie viele Anspielungen an Life is Strange 2 im Ableger versteckt haben und dass sie noch viele Geschichten über die Bewohner von Arcadia Bay zu erzählen haben. Man kann also davon ausgehen, dass im zweiten Teil erneut auch die traurigen Seiten des Alltags thematisiert werden. Bleibt jedoch zu hoffen, dass sich Dontnod kein Beispiel an Life is Strange: Before the Storm genommen hat, deren Episoden teilweise sehr gehetzt erzählt wurden. Denn
auch in Die fantastischen Abenteuer von Captain Spirit wurde mir viel zu wenig Zeit gelassen, eine Beziehung zu den Charakteren aufzubauen. Beim ersten Frühstücks-Bissen war Chris‘ Vater noch der fantasievolle Spielkumpane, beim zweiten Bissen schon der gefallene Trinker-Vater. Obwohl es sich nur um einen kurzen Ableger handelt, hätte man sich hier ruhig mehr Zeit lassen können.
Bittersüßes Wechselbad der Gefühle
Technisch setzen die Franzosen auf die Unreal Engine 4, wodurch das Artdesign etwas schärfer zur Geltung kommt und Mimik sowie Gestik noch realistischer wirken. Viel wichtiger ist jedoch, dass schon im Ableger deutlich wird, dass Dontnod zu seinen größten Stärken zurückkehrt: Denn bisher hat es kaum ein anderes Adventure geschafft, dass ich so sehr mit den Charakteren und ihren Schicksalen mitfühlen konnte wie
in
Life is Strange. Und selbst die eigentlich kurzen Momente mit Chris konnten gut vermitteln, wonach er sich sehnt.
So wird schnell deutlich, dass Chris keine Freunde hat und sich deshalb sein eigenes fantasievolles Reich aufbaut. Das kaputte
Baumhaus wird zur geheimen Superheldenbasis, Vaters Bierpackungen zur spektakulären Rüstung. Chris bleibt stets positiv und findet einen Weg mit seinem Alltag klarzukommen. Dabei wechseln die Geschehnisse von typischen kindlichen Ängsten wie das „Monster im Keller“ zu tatsächlichen Bedrohungen durch seinen Vater. Für diese Situationen hat er sich Superhelden-Bewältigungsstrategien zurechtgelegt. Dadurch erlebte ich immer wieder ein Wechselbad der Gefühle. Während ich eben noch entzückt darüber lachte wie herzlich Chris seine Spielzeug-Monster gegeneinander antreten lässt, ließ der nächste Fund mich eher traurig zurück. Weil man als Spieler so intensiv in die Erkundung der Welt eingebunden wird, kann man umso besser Chris‘ Zerrissenheit nachvollziehen. Denn eins ist auch nach dem überraschenden Ende klar: Chris will einfach nur ein fröhliches Kind sein.
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Damit könnte das Spiel für mich auch endlich mal in wirklich sehr gute oder ausgezeichnete Sphären gelangen. Momentan ist es alles eine nette bis herzerwärmende Nebenbeschäftigung. Aber für den wirklichen Wow-Effekt muss das Storytelling endlich kreativer werden!